R: Max Claessen B: Mirjam Benkner K: Ilka Meier M: Christoph Coburger D: Cornelia von Schwerin E: Lilly Gropper, Astrid Färber, Marlene Goksch, Henning Sembritzki, Heiner Kock, Sven Simon, Michael Schrodt F: Kerstin Schomburg
„Traum, Alptraum und Poesie: So war die Premiere von „Eine kurze Chronik des künftigen China“ am Theater Lübeck. Wieder ein zeitgenössisches Stück am Theater Lübeck: „Eine kurze Chronik des künftigen China“ in den Kammerspielen fordert die Zuschauer – und belohnt sie. Der Theaterkritiker kommt nach der Premiere nach Hause. Sie fragen ihn: „Wie war’s?“, und erwarten, dass er berichtet, worum es geht, welche Geschichte erzählt wird, wie die Personen zueinander stehen. Er merkt schon beim Reden, wie langweilig, abstrakt und wirr das klingt, was er berichtet. Er fand die Vorstellung aber gar nicht abstrakt und wirr, und langweilig schon gleich gar nicht. Wenn ein Theaterabend sich nicht spontan in ein paar Worten zusammenfassen lässt, dann spricht das eher für als gegen ihn. „Eine kurze Chronik des künftigen China“ von Pat To Yan, inszeniert von Max Claessen in den Kammerspielen des Theaters Lübeck, hat viel mit einem Traum gemein, der in den Alptraum kippt: Die Zeit läuft in unterschiedliche Richtungen, die Grenzen verschwimmen zwischen außen und innen, zwischen Komik und Schrecken, zwischen verschiedenen Wirklichkeiten. Eine Reise in die Erinnerung. Eine junge Frau, genannt „Die Außenstehende“ (Lilly Gropper), macht sich auf die Reise von Süden nach Norden, was in ihrem Land sonst kaum jemand tut. Es ist eine Reise in die Vergangenheit, besser gesagt: in die Erinnerung, in einem seelisch zerstörten Land. In diesem Land gibt es Maschinen, die mit industriell gefertigter Erinnerung ausgestattet werden – man könnte dabei an die tatsächlich existierenden, russischen Desinformations-Fabriken denken. Die echten Menschen in diesem Land, das China oder irgendein anderes sein könnte, versuchen verzweifelt, sich ihr Menschsein zu bewahren, indem sie sich erinnern – und indem sie Schmerz empfinden. Minimalistisches Bühnenbild, kreative Kostüme. Das Bühnenbild (Mirjam Benker) verändert sich während dieser ganzen Reise nicht: Es gibt nichts als schwarze Wände und eine schräg gestellte fliegende Untertasse wie aus einer Science-Fiction-Parodie. Das Ufo liegt bis fast zum Schluss einfach da als Fremdkörper, den alle in seiner Unerklärlichkeit hinnehmen. Umso mehr kommen die fantastisch-kreativen Kostüme (Ilka Meier) zur Geltung – und die Schauspielerinnen und Schauspieler. Die Leistung der Schauspieler. Sie erfüllen anspruchsvolle, aber auch dankbare Aufgaben. Die Außenstehende begegnet auf ihrer Reise allerlei märchenhaften Gestalten. Michael Schrodt spielt unter einer unheimlichen Alien-Maske mit hektischen, mechanischen Bewegungen einen Maschinenmenschen hart am Rand des Systemabsturzes. Nicht weniger brillant ist Heiner Kock – erst als stumpfer Diener des Unterdrückungsapparats mit überbreiten Schultern und blutroten Handschuhen, der mit winzigen Schritten und steifem Oberkörper gefühllos seine Arbeit tut; dann als kindischer Diktator mit kurzen Hosen, Krone und dandyhaften Schuhen, blitzschnell changierend zwischen Machtwillkür und Trotzanfall. Marlene Goksch spielt „die weiße Knochenfrau“, die sich mit ruckartigen Bewegungen und krabbelnden, in schwarzen Latexhandschuhen steckenden Fingern in eine Spinne verwandelt. Sven Simon stellt mit riesigem Tierkopf die „Katze mit einem Loch“ dar, mal unnahbar, mal anschmiegsam. Henning Sembritzki strahlt als „Mann, der Schmerz mitansieht“ selbst noch mit verbundenen Augen ein intensives Charisma aus. Rebecca Indermaur, die drei Tage vor der Premiere für die erkrankte Astrid Färber eingesprungen ist, spielt „das unheimliche Mädchen“ so gut, dass man das Textbuch, in das sie manchmal blicken muss, fast vergessen könnte. Lilly Gropper, in paramilitärischer Funktionskleidung, gibt der Außenstehenden einen vorsichtigen Charakter – bis der Maschinenmensch sie durch maschinenhafte Wiederholung aus der Reserve und in einen Wutanfall lockt. Wirklich auftauen tut sie aber erst am Ende, kurz bevor sie mit der Katze in das Ufo steigt. Das kann nur das Theater. Wie war es also? Fordernd, überraschend, poetisch. Die Regie, die Ausstattung und die Schauspielkunst haben zusammen starke, lebende, atmende Bilder erzeugt, die weit über das hinausgehen, was der Text vorgibt. Das kann nur das Theater, dafür ist es da.“ (Hanno Kabel / Lübecker Nachrichten)